Psychoanalyse
Achtung vor dem Kognitiven System!
Claudia Sies und Tobias Brocher
Erschienen in Wolfgang Tress/ Michael Langenbach (Hg): Ethik in der
Psychotherapie Vandenhoeck & Ruprecht 1999
Achtung vor dem kognitiven System!
Ethische Einstellungen in Psychoanalyse, Radikalem Konstruktivismus und
ChaostheoriePsychoanalyse Achtung vor dem Kognitiven System! Claudia Sies und Tobias Brocher Erschienen in Wolfgang Tress/ Michael Langenbach (Hg): Ethik in der Psychotherapie Vandenhoeck & Ruprecht 1999 Achtung vor dem kognitiven System! Ethische Einstellungen in Psychoanalyse, Radikalem Konstruktivismus und Chaostheorie "Das Unbewußte ist tatsächlich ethisch verfaßt." Lacan Woody Allan - ein radikaler Konstruktivist?
"Ich hasse die Wirklichkeit, aber sie ist der einzige Ort, wo man ein anständiges Steak bekommt". Die FAZ fragte aufgrund dieses Ausspruchs am 19.November 1992: ist Woody Allan ein radikaler Konstruktivist? Zumindest ist in dem Spruch nicht von der Realität, sondern von der Wirklichkeit, in der man sich bis vor kurzem darin einig war, daß ein Steak etwas Anständiges ist, die Rede. Und die Unterscheidung von Realität und Wirklichkeit, also ob wir die Realität erfassen können, wie sie wirklich ist oder ob wir uns in "struktureller Koppelung" und "konsensuellen Bereichen" in einem exakt abgestimmten interaktionellen Prozeß mit der belebten und der unbelebten Umwelt darüber einigen und austauschen müssen, wie wir unsere Wirklichkeit verstehen, führt uns später direkt zu den verbindenen ethischen Implikationen der drei Wissenschaftsbereiche. Gustv Theodor Fechner - ein anerkannter Vorläufer der Systemtheorie Wir möchten zunächst darstellen, welche gemeinsamen Wurzeln von Psychoanalyse, Radikalem Konstruktivismus und Chaostheorie wir gefunden haben. Sowohl den Radikalen Konstruktivismus wie die Chaostheorie rechnet man zu den Systemtheorien. Und unser Interesse an diesen Theorien und ihren Texten hatte, wie die Liebe auf den ersten Blick etwas mit Übertragung zu tun. Der
Wissenschaftshistoriker Gerald Holton nennt dies Nuancen, die bei Wissenschaftlern mit Themen zu tun haben, die tief bis in ihren persönlichen Hintergrund reichen. (Briggs, 1990) Dieser persönliche Hintergrund unseres Interesses an speziellen Systemtheorien, z.B. an den Ideenmustern Ilja Prigogines "Ordnung durch Fluktuation" (Prigogine, 1981) und den Ideen über die "Selbstorganisation lebender Systeme" von Maturana und Varela, das sich in unserem Buch "Psychoanalyse und Neurobiologie" niederschlug, wurde uns schlagartig erhellt, als wir in einer Arbeit von Michael Heidelberger mit dem Titel "Selbstorganisation im 19. Jahrhundert" Dr. med. Claudia Sies Artikel zum Download von der Homepage folgendes Zitat fanden: "Ein herausragender Vertreter dieser Tradition (gemeint sind die Gesetzmäßigkeiten der Selbstorganisation) war Gustav Theodor Fechner
(1801-1887). Wenn er heutzutage überhaupt noch genannt wird, dann fast nur als Entdecker eines psychophysischen Gesetzes, das seinen Namen trägt. Es ist fast unbekannt, daß Fechner auch eine Theorie der "Konstitution und Entwicklung des Lebendigen" (Fechner, 1873) aufgestellt hat, für die das Phänomen der Selbstorganisation fundamental ist. Seine Konzeption hat auf so unterschiedliche Forscher gewirkt, wie den Physiologen Ewald Hering, den Psychologen Sigmund Freud, den Philosophen Charles Sanders Peirce, den Physiker Ernst Mach...usw." (Heidelberger, 1990, S. 67) Freud sagte ja selbst: "Ich war immer für die Ideen G.Th. Fechners zugänglich und habe mich an wichtigen Punkten an ihn angelehnt." (Freud, GW XIV, S. 86) Breuer war auch ein Schüler Herings und ein Freund Ernst Machs. (Hirschmüller, 1978, zit. in Heidelberger, S. 88)* * Einige Gedanken und Zitate stammen aus einem Vortrag "Psychoanalyse, Chaostheorie und Surrealismus" (Sies/Brocher, 1990), Kongreß "Psychoanalyse und
Systemtheorie", Heidelberg. Als wir 1982 begannen, uns mit dem Radikalen Konstruktivismus und den Theorien der Selbstorganisation, dem Konzept der Autopoiese von Maturana usw. zu beschäftigen, war uns der große Einfluß Fechners auf heutige Theorien der Selbstorganisation unbekannt. Nur der Zusammenhang des Freudschen Konstanzprinzips mit dem Fechnerschen "Prinzip der Tendenz zur Stabilität" war uns
geläufig. Fuzzy-Logic Zusätzlich interessierten uns andere historische und gegenwärtige Verbindungen der Psychoanalyse mit der heutigen Systemtheorie, z.B. der Chaostheorie. Eine damit in Verbindung stehende Computerwissenschaft beschreitet seit einigen Jahren neue Wege, um exakter und vor allem schneller wirkliche Gegebenheiten berechnen zu können. Ja- und Nein- Entscheidungen und "richtig" oder "falsch" (Hauptkategorien herkömmlicher Ethik) reichen heute als Kategorien nicht mehr aus. "Je ungenauer eine Beschreibung den wahren Sachverhalt trifft, je mehr der Rechner also zwischen den Zeilen lesen müßte, umso schwerer tut er sich, aus solchen Eingaben (ja und nein) noch brauchbare Ergebnisse abzuleiten." ( Klotz, 1991) Die genauesten Diagnosen und Therapievorschläge machen heutige Expertensysteme dadurch, daß sie Unschärfe und Ungenauigkeit solange wie möglich und nötig unverfälscht weiterreichen. Da dies auch zu den Kunstfertigkeiten der Psychoanalyse gehört, wurden wir neugierig auf diese Computerwissenschaft. Entscheidungen werden in diesen Expertensystemen für "Künstliche Intelligenz" also nicht mehr, wie gesagt, über Ja oder Nein getroffen sondern über die Art, wie wir denken: Dreimal drei ist neun ist richtig, dreimal drei ist acht ist falsch, dreimal drei ist sechs ist noch mehr falsch. Die Beschäftigung mit dieser Fuzzy-Logic führte uns in die junge System- bzw. Selbstorganisationstheorie, die Chaosforschung. Hier waren uns die verwandtschaftlichen Zusammenhänge mit der Psychoanalyse durch Kenntnis unseres Stammbaumes nun klar, hatten wir doch in Heidelbergers Arbeit erfahren, daß Ilya Prigogine und Manfred Eigen als alte Chaosforscher längst eingeräumt hatten, daß sie Fechners Theorien als eine Vorwegnahme ihrer eigenen ansahen (Heidelberger, 1990, S.95). Das Modell der Autopoiese - "operationale Geschlossenheit", eine ethische Kategorie Fechners Erklärung der Organisation des Lebendigen legte er 1873 in seinem Buch "Einige Ideen zur Schöpfungs- und Entwicklungsgeschichte der Organismen" nieder, womit dieses Jahr zur Wiege der modernen Geschichte der Selbstorganisationstheorien wurde, eingeschlossen der Chaostheorie. Das Wichtigste aber ist, daß heutige Wissenschaftstheoretiker betonen, daß Fechner, Freud, Hering, Mach u.a. sogar schon die heute als die zwei wichtigsten Merkmale der Selbstorganisation lebender Systeme angesehene "Offenheit" für den Austausch von Materie und Energie und ihre "operationale Geschlossenheit"
gegenüber inneren und äußeren Einflüssen berücksichtigt haben. "Sie alle wissen, daß Organismen offene Systeme im dynamischen Gleichgewicht sind. Und was man heute als operationale Geschlossenheit von Systemen bezeichnet, ist eindeutig in Fechners Konzept der Stabilität vorhanden."(Heidelberger, 1990, S. 95,) Operationale Geschlossenheit lebender Systeme, bzw. deren Nervensysteme, gegenüber Umwelteinflüssen, ist eine der wichtigsten Erkenntnisse des Radikalen Konstruktivismus. Wir möchten nun kurz zunächst einige grundlegende Hypothesen des Radikalen Konstruktivismus vorstellen, die in den letzten 10-15 Jahren Soziologen, Neurophysiologen, Biologen, Psychotherapeuten, Literaturwissenschaftler, Ethnologen u.a. zu neuen Konzepten angeregt haben und die uns für ethische Fragen relevant erscheinen. Wir benutzen dazu eine Definition der Autopoiese, die wir schon früher verwendet haben, und die aus unserer Sicht die Anschlußfähigkeit zwischen Psychoanalyse
und der Erkenntnistheorie des Radikalen Konstruktivismus am klarsten ausdrückt und die der Psychoanalyse "neuro-biologische Argumente" liefert.